„In allen meinen Taten / laß ich den Höchsten raten, / der alles kann und hat; / er muß zu allen Dingen, / soll‘s anders wohl gelingen, / mir selber geben Rat und Tat.“

 

So beginnt ein Kirchenlied von Paul Fleming (1609-1640), das viele durch Johann Sebastian Bachs gleichnamige Choralkantate BWV 97 kennen dürften. Bach-Schüler Johann Ludwig Krebs bereicherte die Rezeptionsgeschichte dieses Liedes ebenfalls. Ludwig Güttler und Friedrich Kircheis haben sein Choralvorspiel im Frühsommer in der Frauenkirche Dresden aufgenommen. Krebs‘ „In allen meinen Taten“ ist eine von fünf symbolträchtigen Neueinspielungen für Trompete, Corno da caccia und Orgel. Zu finden auf der CD gleichen Titels, die im September Ludwig Güttlers Büro frisch gepresst erreicht. Ab 21. Oktober wird sie im Handel erhältlich sein. Es ist der Schlusschoral einer großen Diskografie.


Ein sonniger Tag im Juni 2022. Ludwig Güttler ist gerade von einem Konzert mit seinem Blechbläserensemble aus Birkenfeld im Schwarzwald zurückgekommen, vom letzten Termin der Reihe „Musik aus Dresden“, deren Impulsgeber und Mitbegründer er 1982 war und die durch den unermüdlichen ehrenamtlichen Einsatz von Dorothee Schumacher bis in das Jahr 2022 erfolgreich fortgeführt wurde. Immer wieder kehrte Ludwig Güttler in den 40 Jahren nach Birkenfeld zurück.

 

Viele Konzerte standen und stehen in diesem Jahr noch an. Alle stehen im Zeichen des Abschieds von der Bühne. „Ich bin regelrecht froh darüber, jetzt, wo ein Künstlerleben zu Ende geht, für mich ein Motto gefunden zu haben, eine Überschrift: In allen meinen Taten“, sagt Güttler. „Das ist ein Stück Bekenntnis, ein Stück Zuversicht, das ist – umgangssprachlich – nicht zu toppen.“


Paul Fleming hatte das Lied gedichtet, bevor er eine lange, gefahrvolle Reise antrat. Nun hat es der Trompeter zum Motto eines reflektierenden Rückblicks auf seine eigene Reise gewählt: ein über 50-jähriges Wirken als Interpret, Forscher und Kulturmanager. Neugier und Mut zeichnen dieses Wirken aus, Beharrlichkeit und Durchsetzungsstärke, außergewöhnliche Musikalität sowieso. Am Ende die Gattung Choral besonders zu würdigen ist so schlüssig wie bei einer großen Komposition.


Die Konzerte sind nicht gezählt, die Ludwig Güttler gegeben hat. Mehr als 100 Tonträger mit ihm als Trompeter, Bläser des Corno da caccia und Dirigenten liegen vor. Es sind Aufnahmen mit seinem langjährigen Musizierpartner, dem Organisten Friedrich Kircheis, mit den von Güttler gegründeten Formationen Leipziger Bach-Collegium, Virtuosi Saxoniae, dem Blechbläserensemble Ludwig Güttler und vielen, vielen anderen. Beim Sichten seiner großen Diskografie ist Ludwig Güttler immer wieder auf Choräle gestoßen. In der Frauenkirche haben Güttler und Kircheis im Jahr 2007 mehrere Choralbearbeitungen aufgenommen, darunter die auf der neuen CD wieder zu hörenden Stücke von Dietrich Buxtehude und Jean Langlais. Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“ – vom Lübecker Meister Buxtehude besonders originell bearbeitet – zählt für Güttler persönlich zu den wichtigsten Chorälen. Schon zu DDR-Zeiten fand er darin stärkende, tröstliche Botschaften transportiert. Überhaupt ist ihm der Choral und die Art und Weise, wie er auftaucht, ein Botschafter. „Wenn Langlais als Franzose drei deutsche Lieder in den Mittelpunkt eines Werkes stellt, dann steckt darin eine verbindende Aussage. Ähnlich Max Reger, der als Katholik seinen Bezug zum evangelischen Choral vertieft und ausbreitet.“


Von seinem neuen Appartement im Obergeschoss kann Ludwig Güttler in den Stallhof schauen, den ehemaligen „Fuhrpark“ des Dresdner Residenzschlosses. Vom Stadtrand hat es den Künstler an einen für ihn besonders geschichtsträchtigen, zugleich sehr ruhigen Ort gezogen. Außer einer Pferdekutsche ab und an höre er hier keinerlei Verkehr. Tagsüber flanieren Touristen, abends nach zehn wird es ganz still. Dann ist kaum mehr als das Geläut der nahen Frauenkirche zu hören. Im Glockenturm C zum Neumarkt hin befindet sich die Turmuhr. Dankglocke Hannah schlägt die Viertelstunden, Gebetsglocke David zur vollen Stunde. Fast zwanzig Jahre nach der Weihe des Gotteshauses, an dessen Wiederaufbau Güttler maßgeblich beteiligt war, gehören Hannah, David und die sechs weiteren Glocken wie selbstverständlich zum Klang der Dresdner Altstadt.


Güttler brachte den Wiederaufbau der Frauenkirche Dresden nach dem Ende der DDR in entscheidender Weise auf den Weg. Von seinem beispiellosen Engagement profitierte das bedeutende Gotteshauses mehrere Jahrzehnte, die Weihnachtliche Vesper eingeschlossen, deren Ideengeber und Initiator er war. Da galt es Vieles zu bewegen, auch Aufgaben zu bewältigen, die an den Kräften zehrten und die einem Künstler nicht wesenseigen sind. Ähnliches lässt sich für die Musikwoche Hitzacker und das Festival Sandstein und Musik sagen, die es ohne Ludwig Güttler nicht gäbe. Stets war es die Musik, in der der Virtuose immer einen Ruhepol und Haltegriff gefunden hat. Besonders steht dafür jene Gattung: „Wir können für alle Gemütslagen und Themen sofort einen Choral bemühen. Er kann aufmuntern, Freude und Zufriedenheit ausdrücken, zum Beispiel für eine vollbrachte Leistung. Ein anderer tröstet uns bei betrüblichen Tatsachen. Das ganze Feld der Möglichkeiten und Wirklichkeiten wird durch Choräle und durch die Komponisten mit ihrem begnadeten Können abgebildet.“


Letztlich ist es gelungen, den Fundus auf eine repräsentative CD zu verdichten: mit viel Bach, eingebettet in ein vor allem barockes Spektrum von Johann Crüger bis Jan Dismas Zelenka. „So können wir die Zeit meines langen Wirkens im Querschnitt hören und haben die letzten Aufnahmen aus der Frauenkirche dabei“, sagt Ludwig Güttler mit Genugtuung. Das Glück ist ihm wohl bewusst, den üblichen Eintritt ins Rentenalter im wahrsten Sinne des Wortes überspielt zu haben, lange Jahre darüber hinaus aktiv geblieben sein zu können. „Aber man darf nicht leichtsinnig sein. Es ist eine wahnsinnig schwere Aufgabe, zu sagen: Das war’s.“ Ludwig Güttler ist entschlossen, es zu tun. Die noch kommenden Konzerte werden im Zeichen des Abschieds von der Bühne stehen. Im nächsten Jahr feiert er 80. Geburtstag.


Seine Tage werden weiterhin gut gefüllt sein, nur anders. Ludwig Güttler wird sich körperlich so fit wie möglich halten. Das regelmäßige Spiel, während der Corona-Zwangspausen eisern durchgezogen, wird er nicht freiwillig aufgeben. Zudem wird er weiter an seinen Instrumenten „tüfteln“. Was genau er da tüftelt? „Das verrate ich Ihnen nicht!“, sagt er lachend. Und er erinnert sich vieler, vieler Funde, die seine Aufmerksamkeit verdienen. „Ich habe noch Noten aus verschiedenen Bibliotheken, mit denen ich mich wieder oder überhaupt endlich beschäftigen kann.“ Nein, ein Ludwig Güttler im „echten“ Ruhestand lässt sich schwer denken.


„Es gehe, wie es gehe, / Dein Vater in der Höhe / Weiß allen Sachen Rat“ – mit diesen Worten endet Paul Flemings Lied. Sie passen auf Güttlers Schaffen wie zu den fünf Choralvorspielen, die Friedrich Kircheis und er in der Frauenkirche neu festgehalten haben. Für Güttler ein wahrer Schlusspunkt: „Da fügt sich so viel zusammen.“


Karsten Blüthgen